Stadt Zürich wegen Mangel an Radweg zu Schadenersatz verurteilt
Das oben stehende Bild zeigt nicht den Ort des Unfalles in diesem Artikel, ist aber auch bemerkenswert und könnte zum Haftpflichtfall werdenTAGES-ANZEIGER online vom 11. April 2006:
Von Annemarie Straumann
Für das Gericht ist klar: Die Stadt haftet als Werkeigentümerin der Strassen für Unfallschäden, die Radfahrer auf Grund eines mangelhaften Radwegs erleiden. Dies hat das Bezirksgericht Zürich im Fall einer schwer verunfallten Velofahrerin entschieden. Die Stadt muss der Frau Schadenersatz zahlen.
Der Unfall war ein Selbstunfall: Am 7. August 1998 fuhr die Radfahrerin, eine Basler Ärztin, mit einem geliehenen Velo in die Unterführung beim Hauptbahnhof Richtung Uraniastrasse. In der Sohle des Tunnels, wo der Radstreifen in einen Radweg übergeht, verpasste sie die Auffahrt zum Radweg, der durch einen 12 Zentimeter hohen Bordstein von der Strasse abgetrennt ist. Beim Versuch, doch noch auf den Radweg zu gelangen, stürzte die Frau und schlug mit dem Kopf gegen die Betonwand der Unterführung. Die 55-Jährige, die keinen Helm trug, erlitt ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und mehrere Knochenbrüche. Sie hat bis heute Sprach- und Gedächtnisschwierigkeiten. Drei Jahre nach dem Unfall kam eine Epilepsie dazu. Sie ist arbeitsunfähig und erhält eine hundertprozentige IV-Rente.
Anwalt Vogel wollte nun für seine Klientin eine Entschädigung herausholen. Er schlug der Stadt im Oktober 2000 als gütliche Einigung vor, die Stadt solle der Verunfallten eine Entschädigung von 100 000 Franken zahlen - was deren Vertreter «entrüstet» abgelehnt hätten, sagt Vogel. Daraufhin leitete er einen Zivilprozess mit Schadenersatzklage ein.
Radweg: Schlecht markiertes «Werk»
Im Namen der Velofahrerin machte der Anwalt geltend, dass der Unfall auf eine «mangelhafte Radwegführung» zurückzuführen sei. Konkret seien Radstreifen und Radweg in der Unterführung zum Unfallzeitpunkt schlecht markiert und mangelhaft beleuchtet gewesen. Ausserdem sei es ein baulicher Unsinn, dass unten im Tunnel plötzlich ein Randstein beginne. Tatsächlich hatte die Stadt kurz nach dem Unfall von sich aus stark reflektierende weisse Streifen aufgemalt, die gelben aufgefrischt und den Bordstein abgeschliffen.
Der Anwalt verlangte Folgendes: Die Stadt müsse als Eigentümerin der Strassen für einen Teil der finanziellen Schäden der Radfahrerin aufkommen. Juristisch stützte er sich auf die Werkeigentumshaftung gemäss Artikel 58 OR ab. Die Stadtgemeinde ihrerseits bestritt das Bestehen eines Werkmangels und lehnte eine Haftung ab. Die Frau habe den Unfall allein verschuldet, sie sei zu schnell und falsch in den Tunnel gefahren, womöglich ohne ihre Brille, und sei aufgebracht gewesen.
Der Prozess zog sich über viereinhalb Jahre hin. Die Velofahrerin konnte wegen ihrer Sprachprobleme zu keinem der drei oder vier Verhandlungstage persönlich erscheinen. An den Unfall konnte sie sich laut Arztzeugnis wegen einer «amnestischen Lücke» nicht mehr erinnern, ebenso wenig daran, ob sie die Strecke vor dem Unfall schon einmal gefahren sei. Das Gericht stützte sich für sein Urteil vor allem auf Zeugenaussagen ab.
In dem Urteil vom 28. Februar 2006 kam das Bezirksgericht zum Schluss, dass die Radwegführung zur Zeit des Unfalls tatsächlich mangelhaft war. Den Übergang vom Radstreifen auf den Trottoir-Radweg im Tunnel stufte es als «sehr gefährlich» ein. Er sei eben nicht von weitem klar und deutlich erkennbar markiert gewesen. Als weiteres Indiz für die Gefährlichkeit der Stelle wertete das Gericht, dass seit Eröffnung der Unterführung vier ähnliche Velounfälle registriert worden seien. Ein grobes Fehlverhalten der Radfahrerin, wie es die Stadt behauptet hatte, konnte gemäss Urteil nicht bewiesen werden. Allerdings liege ein leichtes Selbstverschulden vor, weil die Fahrerin nach Verpassen der Auffahrt abrupt Richtung Bordstein schwenkte. Laut Urteil muss die Stadt rund 33 000 Franken zahlen.
Verdienstausfall und Schmerzensgeld
Vogels Schadenersatzklage war lediglich eine Teilklage für eine kurze Zeit der Arbeitsunfähigkeit im Haushalt. Hauptziel war die Klärung der Grundsatzfrage, ob die Stadt überhaupt haftet. In künftigen Prozessen werde nun der Umfang des Schadenersatzes zu verhandeln sein, sagt Vogel. Die Stadt wird die Ärztin dafür, dass sie nie mehr einen Haushalt führen kann, sowie für ihren Verdienstausfall entschädigen müssen. Hinzu könnte noch ein Schmerzensgeld kommen. Laut Vogel wird das «die Gemeinde Hunderttausende, vielleicht sogar eine Million Franken kosten».
Das hätte die Stadt billiger haben können, findet Vogel, der den Prozess zwar gewonnen hat, sich aber über die Handhabung des Falls durch die Stadt ärgert: «Es ist ein Skandal, dass die Stadt eine Frau, die eine schlimme Tragödie erlitten hat, sieben Jahre lang prozessieren lässt.» Das Bezirksgericht habe schon 1999 festgestellt, dass die Lichtverhältnisse in der Unterführung ebenso wie die Weggestaltung schlecht seien. Mit der 1999 vorgeschlagenen gütlichen Einigung wäre die Stadt billiger weggekommen, sagt Vogel.
Für die Stadt lag kein Mangel vor
Rechtsanwalt Michael Steiner, der das Tiefbauamt in der letzten Phase des Prozesses vertrat, ist anderer Meinung: «Wir waren überzeugt, dass kein Werkmangel vorlag», deshalb habe man prozessiert. Steiner weiter: «Hätten wir entgegen unserer Überzeugung einem Vergleich zugestimmt, hätte die Stadt in Kauf genommen, dass sie in Zukunft in ähnlichen Fällen eingeklagt wird.»
Laut dem Haftpflichtexperten Matthias Becker sind solche Fälle, die schlussendlich durch ein Gericht entschieden werden, selten. Er erinnert sich nur an einen Fall im Kanton Aargau, bei dem ein verunfallter Velofahrer wegen ungenügender Markierung und Signalisation eine Entschädigung verlangte. Die beiden Parteien konnten sich im Verlauf des Gerichtsverfahrens einigen.
Nun sei es zwar möglich, dass nach dem Zürcher Urteil mehr Verunfallte eine Klage gegen staatliche Behörden ins Auge fassen würden - «doch deswegen hat kein Anwalt mehr Chancen, einen Fall zu gewinnen», sagt Becker.
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